Seenotrettung unter Druck
In den letzten Jahren sind mehr als 30.000 Menschen auf der Flucht nach Europa im Mittelmeer ertrunken. Was man in Zahlen so nüchtern in Hauptsätzen niederschreiben kann, ist dabei nicht nur ein Scheitern der Idee einer universellen Menschenwürde, die zu schützen oberste Aufgabe aller staatlichen Gewalt ist. Es ist auch ein unvorstellbarer Schmerz von mehr als 30.000 Schicksalen, die auf ein Leben in Sicherheit und Freiheit und Rechtsstaat gehofft haben und den Erstickungstod im Mittelmeer fanden.

Allzu oft wird nüchtern und kalt über angebliche “Pull-Faktoren” gesprochen, Exceltabellen über Ankunftszahlen werden verglichen und Diktatoren mit Geldgeschenken überhäuft, damit sie Flucht nach Europa aufhalten – koste es was es wolle.
Doch eine staatliche Seenotrettungsmission der EU-Staaten gibt es seit Jahren nicht. Der Grund: Man will vermeiden, dass die Geretteten nach Europa kommen. Denn dorthin müssen die Seenotrettungsschiffe Menschen nach der Rettung bringen. Eine Ausschiffung in Länder wie Libyen ist schlicht verboten. Weil er das missachtete, wurde ein Kapitän in Italien unlängst zu einer Haftstrafe verurteilt.
Und auch die zivile Seenotrettung gerät immer stärker unter Druck. Menschen werden unter fadenscheinigen Begründungen angeklagt, Schiffe festgesetzt und mit Auflagen überzogen. Die zivile Seenotrettung wird für die Hilfsorganisationen dadurch immer schwerer und teurer. Staatliche Schikane von Hilfsorganisationen, die Menschenleben retten – das ist der Alltag an der EU-Außengrenze Mittelmeer. Dabei dient die Kriminalisierung und Diffamierung ziviler Seenotrettung EU-Regierungen wie Italien vor allem als Sündenbock, um von der eigenen Verantwortung abzulenken. Wer immer behauptet, Migration mit einfachen Lösungen bekämpfen zu können, braucht einfache Feindbilder. Dass Studien immer wieder darlegen, dass die Seenotrettung gar keinen Einfluss auf die Zahl der Abfahrten hat, sondern einfach nur mehr Menschen sterben, wenn Seenotrettung fehlt – das scheint in Zeiten der populistischen Migrationshysterie nur wenige zu interessieren.
Und doch gilt für uns weiterhin: wenn Europa Menschen ertrinken lässt und versucht Seenotrettung zu verhindern, dann können wir auch gleich moralische Insolvenz anmelden.
Menschen lässt man nicht ertrinken.
Erik Marquardt, Abgeordneter im Europäischen Parlament, arbeitet zu den Themen Flucht, Migration und Menschenrechte
Dieser Artikel ist Teil des Neuköllner Stachels Nr. 197, Ausgabe II/2024