"Um die humanitäre Lage macht sich kaum jemand Gedanken"

Ist Afghanistan sicher? Ein weißer Plastikdrachen flattert im Wind über den Dächern Kabuls. Auf dem Markt verkauft ein Mann Obst, Gemüse und Saft. Er grinst gutgelaunt in die Kamera. Und sogar Karussellfahren kann man in der afghanischen Hauptstadt wieder. Doch der Schein ist trügerisch. Wo sich jetzt wieder das Karussell dreht, hat vor kurzem ein Anschlag 200 Menschen getötet. Jede Woche gibt es im Durchschnitt vier Anschläge in Kabul.

Diesen Kontrast versucht Erik Marquardt in seinen Bildern einzufangen. Zwei Wochen lang reiste er dafür Anfang des Jahres durch Afghanistan. Am 7. Februar 2017 zeigte er die beeindruckenden Fotografien in seinem Vortrag  "Afghanistan<link https: www.facebook.com events> – Hoffnung, Flucht, Vertreibung" in der Bezirksgruppensitzung der Grünen Neukölln. Das Thema stößt auf großes Interesse: Die Geschäftsstelle war bis auf den letzten Platz besetzt.

Seit Wochen wird die Frage in Politik und Medien debattiert: Darf man nach Afghanistan abschieben? Ist das Land sicher? Erik Marquardt sagt klar: "Nein." Die Zahl der zivilen Opfer steige weiter kontinuierlich an. Im letzten Jahr lag sie bei 11.000. Und das ist nur eine Schätzung. Die Dunkelziffer könnte noch wesentlich höher liegen.

2,7 Millionen Menschen aus Afghanistan sind deshalb auf der Flucht – viele von ihnen im eigenen Land. Erik Marquardt war schon mehrmals als Fotograf und Helfer auf der Balkan-Route, um die Situation der Geflüchteten zu dokumentieren. Doch sein Besuch in einem afghanischen Lager hat ihn besonders schockiert. "Das war mit das Schlimmste, was ich bisher gesehen habe", erzählt Marquardt. "Es gab keinerlei Grundversorgung, die Menschen lebten bei bis zu -13 Grad im Matsch, viele von ihnen ohne Schuhe, ohne Essen, einige mit entzündeten Verletzungen."

In der Debatte in Deutschland werde die individuelle Situation der Geflüchteten oft vergessen. "Es geht nur noch darum, illegale Migration zu bekämpfen. Um die humanitäre Lage macht sich kaum jemand Gedanken", sagt Marquardt. Dass nun vermehrt nach Afghanistan abgeschoben werden soll, habe deshalb vor allem innenpolitische Gründe und nichts mit der tatsächlichen Sicherheitslage im Land zu tun.

Nur an wenigen Orten in Kabul war es für Marquardt und seine Begleiter überhaupt möglich, auszusteigen und zu fotografieren. Die Gefahr ist in Afghanistan allgegenwärtig. Noch immer sind an jeder Kreuzung Straßensperren errichtet. Viele Gebäude werden von schwer bewaffneten Soldaten bewacht. Das deutsche Konsulat in Masar-i-Scharif wurde im vergangenen Jahr bei einem Anschlag komplett zerstört. Wie fast alle westlichen Helfer hat sich das Botschaftspersonal seitdem in die militärischen Camps zurückgezogen. Manche Soldaten hätten noch nie das Camp verlassen, berichtet Marquardt. So abgeschnitten von der Außenwelt sei es jedoch kaum möglich, sich einen Überblick über die tatsächliche Lage im Land zu verschaffen.

Der Fotograf und Grüne Politiker ist überzeugt: Sicher ist das Leben in Afghanistan nicht. Forderungen, vermehrt in das Land abzuschieben, müsse man deshalb entschieden widersprechen – auch innerhalb der eigenen Partei.

Zur Person:

Erik Marquardt ist Fotograf, Fotojournalist und Politiker bei Bündnis 90/Die Grünen. Er war von 2011 bis 2013 im Vorstand des "freien zusammenschlusses von studentInnenschaften" (fzs). Bis November 2015 war er Bundessprecher der Grünen Jugend. Seit November 2015 ist er Mitglied im Parteirat von Bündnis 90/Die Grünen. Seine Fotos und Videos von der Fluchtroute wurden unter anderem bei Spiegel Online, Arte und im Tagesspiegel veröffentlicht.